"Ein Kindergarten für alle Kinder" - Zwischenbericht FaBi
1. Aktueller Diskurs
"Die Kraft unserer Träume liegt darin, unsere Sicht
der Dinge und damit auch die Welt zu verändern.
Wenn genug Menschen einen bestimmten Traum haben,
dann wird er am Ende Realität werden" (Paulo Coelho)[1]
Mit diesem Gedanken und Hoffnungen von Paulo Coelho betrachten wir
rückblickend die ersten Schritte des Projekts und sehen Chancen auf eine
veränderte Realität an Orten, an denen die Beteiligten die Hoffnung
haben und die Bereitschaft zeigen, Kinder mit Assistenzbedarf an dem Leben in
Regeleinrichtungen teilhaben zu lassen.
In unseren konzeptionellen Überlegungen ist der Inklusionsgedanke als ein
zentraler Baustein unseres Arbeitsverständnisses verankert und soll im
Projekt auch wirksam werden. Inklusion ist für uns kein neues Zauberwort.
Inklusion ist ein Verständnis, eine Anschauung von Zusammensein und
Zusammenleben in der Gesellschaft, bei dem die Menschen mit
Unterstützungsbedarf bzw. ihre Familien selbstverständlich an
den täglichen Begegnungsformen teilhaben können und mit ihren
Bedürfnissen und Wünschen ernst genommen werden.
Inklusion bedeutet, dass wir grundsätzlich Menschen mit Assistenzbedarf
miteinschließen (includere = miteinbeziehen, miteinschliessen,
Miteinbezogen-Sein). Das heißt konkret: Regeleinrichtungen in unserer
Gesellschaft wie z. B. Kindergärten müssen dahingehend geöffnet
und ausgestattet werden, dass sie für Kinder mit Unterstützungsbedarf
selbstverständlich zugänglich sind. Inklusion in diesem Sinne
heißt auch, dass die Verschiedenheit der Menschen mit Achtung
wahrgenommen wird und deshalb alle Kinder mit Unterstützungsbedarf
gleichberechtigt am gemeinsamen Alltag wie die anderen teilhaben können.
Mit anderen Worten: nicht nur Kinder mit wenig Assistenzbedarf, sondern jedes
Kind soll in den Regelkindergarten gehen können bzw. ist als Mitglied der
Gemeinde im Regelkindergarten willkommen.
Sehr eng verbunden mit den Gedanken der Inklusion ist das Konzept von
Community Care bzw. Community living. Die Grundgedanken dieser Ansätze
kommen aus den USA und zielen darauf ab, dass Menschen mit Assistenzbedarf vor
Ort, in der Gemeinde, in ihrem sozialen Netzwerk unterstützt werden
sollen.
Bezogen auf den "Fachdienst Assistenz, Beratungsdienst und Inklusion" (FABI)
heißt dies, dass wir uns auch bemühen, die Integration im
Kindergarten als Ausgangspunkt zu nehmen, um Möglichkeiten zu entwickeln,
die Situation innerhalb und außerhalb des Kindergartens mit den
vorhandenen Ressourcen inklusiv zu gestalten. Dieses Ziel umzusetzen bedarf
Visionen und auch das Bemühen, im Laufe des Projekts die notwendigen
Rahmenbedingungen zu erarbeiten.
I.
Betrachten wir die gegenwärtige Diskussionen über die Kindergartensituation, so gibt es verschiedene inhaltliche Anknüpfungspunkte für das Ziel und Vorhaben einer integrativen und inklusiven Ausrichtung des Regelkindergartens. Im folgenden werden deshalb einzelne Aspekte angesprochen, die im Verlauf des Projekts mitverfolgt und verknüpft werden sollen.
- Die Kindergartenzeit ist wieder im Gespräch. Während in den
letzten Jahren die Vorschulzeit bzw. das Vorschulalter kein Gegenstand bei den
dominanten öffentlichen Veränderungsdiskursen war, ist
spätestens mit der Pisa-Studie im letzten Winkel Deutschlands die Frage
aufgetaucht, warum unser Bildungssystem so schlecht ist bzw. die Ergebnisse so
unbefriedigend sind, obwohl wir nicht wenig Geld dafür ausgeben. Diese
Diskussion über Bildung und Schule betrifft auch den Kindergarten, der
zwar schon länger in Fachkreisen über die Diskussion des
Bildungsauftrags im Gespräch war, darüber hinaus aber wenig Resonanz
fand. Schon vor der Ergebnispräsentation der Pisa-Studie kam eine
grundsätzliche Diskussion über Kindheit und Lernen in Gang. Ein
Beispiel dafür war die große Nachfrage - auch außerhalb von
Fachkreisen - nach dem Buch von Donata Elschenbroich über das "Weltwissen
der Siebenjährigen". In diesem Buch werden viele Themen angesprochen, die
sowohl in der Pisa-Studie als auch in den Veröffentlichungen des "Forum
Bildung" zur Sprache kommen.
- Gemeinsam aller Studien ist die Lehr- und Zauberformel: "Lernen zu lernen",
die für alle Altersgruppen (also auch für ältere
ArbeitnehmerInnen) gilt. Hier stellt sich für unseren Arbeitsbereich die
Frage: welche "Basic skills" und Grundqualifikationen sollen im
Kindergarten(alter) vermittelt werden?
Nehmen wir die ersten Reaktionen auf die Pisa Studie, so scheinen in Baden-Württemberg u.a. die Interpretationen der Ergebnisse zu Schlußfolgerungen zu führen, die sehr stark auf erhöhten Leistungsdruck und Eliteförderung abzielen[2]. Dies ist insofern vor allem vor dem Hintergrund der Pisa-Ergebnisse erstaunlich, weil hier die große Kluft zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen SchülerInnen in Deutschland bemängelt wurde und eine integrative Erziehung gefordert wird. SchülerInnen mit weniger Bildungskapital müssen stärker gefördert werden und hier soll schon bereits im Kindergarten begonnen werden. - Die derzeitigen Debatten über die neuen Anforderungen im Kindergarten
bieten für uns die Chance, die möglichen Folgen der Integration von
Kindern mit Assistenzbedarf im Kindergarten in ihrer Qualität und
Lernchance darzustellen. Gehören Kinder mit Assistenzbedarf in den
Kindergarten, um Schlüsselqualifikationen zu vermitteln, die gerade durch
diese Herausforderung, sich "Fremden" anzunähern, erprobt werden kann.
- Bildung als Aufgabe für den Kindergarten bzw. die
Kindertagesstätten soll nach den Empfehlungen des "Forum Bildung"
(Bund-Länder-Gremium) stärker gefördert werden. In erster Linie
soll das "Lernen zu lernen" kindgerecht vermittelt werden und hierzu
müssen neue Konzepte der Weiterbildung u.a. auch für ErzieherInnen
entwickelt werden sowie die Vernetzung im Gemeinwesen (vgl. Empfehlungen 1, 3
und 10). Der Qualifizierungsbedarf von Professionellen im Bereich der Erziehung
steht außer Frage.
- Für den Kindergarten und seine zukünftigen Aufgaben
erkenntnisreich sind u.a. folgende zwei Aspekte aus der Pisa-Studie:
Erstens: Einigkeit besteht darin, dass sich die Lernkultur ändern muß. Hier stellt sich die Frage, ob ein Kindergarten für alle eine Veränderung mit sich bringt, die Chancen neuer Lernmöglichkeiten für alle bereithält. Im internationalen Vergleich zeigen die Ergebnisse der PISA-Studie, dass Länder, in denen selektive Systeme eingesetzt werden, schlechter bzw. auf jeden Fall nicht besser abschneiden (vgl. Kerstan 2001 :46).
Zweitens: Wie kommt es, dass auf dem Innovationsindex der EU das Land Nummer eins Schweden ist, dessen Schulen bis zur achten Klasse keine Noten geben? Ist es möglich, dass im internationalen Vergleich Schüler aus einem System gut abschneiden, in dem das Gesetz verbietet, in den ersten neun Klassen nach Leistungen zu sortieren? Die neunjährige Allgemeinschule in Schweden ist eine Gesamtschule, die alle SchülerInnen besuchen. (vgl. Kahl 2001a :48). Diese Erfahrungen zeigen doch, dass Leistungsforderungen und Vorwürfe an fehlende Leistungsbereitschaft keine Wirkung erzielen werden. Vielmehr wird es darauf ankommen, auch bei uns nachzuweisen, dass ein gemeinsamer Alltag die Chancen für alle verbessern kann. - Integration als vorschulische Bildung kann auf diesem Hintergrund ein
aktuelles Thema werden. Zunächst erweckt es den Eindruck, dass die
Ergebnisse nur bedingt mit der Situation von Kindern mit Assistenzbedarf in
Zusammenhang gebracht werden können, weil das Thema Integration von
Kindern mit Assistenzbedarf in der allgemeinen Diskussion randständig
bleibt, wobei die Notwendigkeit proklamiert wird, wie folgendes Zitat zeigt:
"Behinderte[3] sind stärker in
Regeleinrichtungen zu integrieren. Dafür müssen die Bedingungen
für eine individuelle Förderung von Behinderten in Regeleinrichtungen
verbessert werden" (Forum Bildung 2001 :13).
Die grundlegende Diskussion über den Sinn des Lernens ist aber an die Integrations- und Inklusionsdebatte anschlussfähig, weil hier bei einer ernsthaften Auseinandersetzung über unterschiedliche Kompetenzen, gegenseitige Anerkennung und Verantwortung neue Wege aufgezeigt werden können. Neben der Frage, welche Bilder wir Erwachsene über Kinder haben, fragen wir uns, inwieweit hierzu auch selbstverständlich die Position des "Fremden", des "Nicht-Vertrauten" einen Platz einnehmen sollte. Das Credo der Diskussion: Selbständigkeit und Neugier müssen stärker geweckt werden sowie die Möglichkeit, eigene Lösungswege zu finden. Integration bietet dafür u.a. ein zukunftsfähiges Lernmodell - auch deshalb, weil es das "Lernen ohne Grenzen" (EU-Slogan) im wahrsten Sinne des Wortes real werden lässt. Diese Gedanken sind nicht neu, sondern schon seit langem aus der Integrationsbewegung bekannt. Exemplarisch hat dies Feuser (1984) mit dem Spielen und Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand, bei dem jeder nach seinen spezifischen Möglichkeiten teilhaben kann, aufgezeigt. - Wenn die wissenschaftlichen Forschungen des Max-Planck-Instituts für
Bildungsforschung Berlin an Schulen auf den Kindergarten übertragen werden
können, dann wird deutlich, dass es nach Baumert´s Aussagen vor allem
auf den "Eigensinn" einer Einrichtung ankommt, auf den Geist, der dort weht
(vgl. Kahl 2001b: 49).
- Diese Diskussion über Haltungen und Einstellungen der Beteiligten zur
Inklusion ist durch die Richtlinien und ihre ersten Umsetzungsversuche virulent
geworden. Sie zeigen, dass Inklusion auch eine Frage des politischen Willens
ist. Es wird daher für das Modellprojekt wichtig werden, wie die
Erfahrungen eines gemeinsamen Alltags von Kindern mit mehr und weniger
Assistenzbedarf in den Prozeß der Weiterentwicklung der Richtlinien und
der politischen Willensbildung miteingebracht werden können.
II.
Die Entwicklungen im Sozialen Bereich analog zu Wirtschaftsbetrieben ist in manchen Bereichen überfällig, aber in anderen nicht ohne Gefahren. Die Frage nach den "rentablen" Geschäften, die durch die Privatisierung im Sozialen Bereich auch einen Schub erhalten haben, lässt Strategien erkennen, die auch bedenkliche Formen annehmen wie z. B. im Pflegebereich, nach dem Motto: Hauptsache "satt und sauber". Die Suche nach GeschäftspartnerInnen, die für weniger Geld Leistungen erbringen, die Einrichtungen nicht mehr selbst durchführen und deshalb ausgelagert werden, werden im Sozialen Bereich nicht ohne gravierende Folgen bleiben.[4] Die Frage nach der Qualität der Leistung kann leicht in den Hintergrund geraten, wenn die billigsten AnbieterInnen locken.
Diese Diskussion hat vor allem für FABI Bedeutung, weil die Arbeitsgemeinschaft Integration als Träger von außen kommt, selbst outsource-Anbieter ist und somit den Prozess der Verlagerung auch mitträgt. Eine wichtige Voraussetzung liegt aber darin, dass trotz der ausgelagerten Leistungen die Arbeitsgemeinschaft Integration auf eine gemeinsame Verantwortung mit dem Kindergarten(träger) nicht verzichten kann.
Die Chancen dieser Konstruktion liegen in den über viele Jahren in der
Integrationsbewegung gewonnenen Erfahrungen und Kompetenzen der Eltern, die als
Basis für den Fachdienst, den Blick für die zentralen Voraussetzungen
integrativer Prozesse immer wieder thematisieren.
Gerade wegen der Vermittlung von Inklusionserfahrungen benötigt der Verein
noch mehr Eltern, die ihre Erfahrungen mit einbringen, um den Verein zu
stärken. Gerade in bezug auf das praktische Alltagshandeln zeigt die
Erfahrung in vielen Gesprächen, dass die Beteiligung der Elternselbsthilfe
an den Entwicklungsprozessen und zentralen Fragen unverzichtbare ehrenamtlich
geleistete Kompetenz bietet.
Es wird in der kommenden Arbeitsphase interessant sein, in einer vergleichenden Betrachtung unterschiedliche Organisationsmodelle zur Integration von Kindern mit Assistenzbedarf in den Kindergarten auch unter diesen Aspekten in ihren Möglichkeiten und Grenzen zu erfassen.
[1] Paulo Coelho: DIE ZEIT, Nr. 49, 29.11.01, S.80
[2] vgl. u.a. Stuttgarter Zeitung vom 22.01.2002
[3] defizitärer Sprachgebrauch ist bedauerlich
[4] Schon allein im Bereich der Wirtschaft stellt sich die Frage, ob eine Produktion in andere Länder zu verlagern und Billigtarife und Dumpingpreise aus ethischen und moralischen Grundsätzen nicht zu hinterfragen sind. Das kann hier nicht weiter vertieft werden, wirft aber auch Schatten auf den Bereich des Sozialen. Immer stärker werden hier Strategien des outsourcing verfolgt, um den Haushalt zu entlasten. Die Prozesse der ständigen Produktionsverlagerungen und Billigtarife ist nur ein Mosaikstein in einer immer stärker reduzierten kapitalorientierten Denkweise. Letztendlich wären notwendige Konsequenzen auf ganz anderen Spielfeldern zu ziehen. Als Beispiel kann hier die steigende Kluft zwischen Arm und Reich angeführt werden, zwischen Chefetage und Angestellten. Während vor 40 Jahren ein Chef durchschnittlich 45 mal mehr verdient hat wie ein Arbeiter klafft die Differenz heute z. T. um ca. das 5000-fache (vgl. Beat Kappeler: Werden die Armen immer ärmer". In: Die Weltwoche, Zürich 06/02).